…aber warum?
„Sei froh, dass du so liebe Adoptiveltern bekommen hast!“ Den Satz habe ich nicht nur einmal gehört. Und zusätzlich habe ich es gespürt. Zwischen den Zeilen. In Kommentaren. In Blicken. In dieser feinen, kaum sichtbaren Erwartungshaltung, die sich wie ein Netz über meine ganze Kindheit gelegt hat.
Sätze wie die hier folgenden waren und sind in meinem Leben normal, sobald jemand von meiner Adoption weiß:
- „Du hast ja echt Glück gehabt mit deiner Familie.“
- „Da haben deine Eltern aber wirklich was Gutes getan.“
- „Konnten deine Eltern keine richtigen Kinder bekommen?“ (Ich habe mich dann immer gefragt, ob ich kein RICHTIGES Kind bin…)
- Oder anders herum: „Das sind ja gar nicht deine richtigen Eltern…“😏
- (Zu meinen Eltern oft:) „Das ist aber mutig von euch! Man weiß ja, dass solche Kinder oft psychische Probleme kriegen“.
Niemand hat mich gefragt, wie es sich wirklich anfühlt. Wirklich, ich kann mich nicht erinnern, dass ich das jemals in meinem Leben gefragt wurde. Auch nicht von meinen Eltern.
Niemand hat mich gefragt, was es bedeutet, wenn deine erste Bindung zu einer wichtigen Bezugsperson mit einem solchen Schnitt beginnt.
Meine Adoptionsgeschichte
Ich war ein Baby. Meine leibliche Mutter war knapp 16. Es war zu Beginn der 80er Jahre. Da gab es für Frauen in dieser Situation noch nicht so viel Unterstützung wie heute (selbst heute ist es ja immer noch schwer…)
Ich war bei der Adoption knapp 6 Monate alt. 6 Wochen zuvor hatte meine leibliche Mutter mich im Krankenhaus abgegeben, weil sie es nicht mehr schaffte. Ihre Mutter half zwar, aber auch die war überfordert. So hat sie mich da abgegeben, ihr okay zur Adoption dagelassen und ist dann nie wieder dort aufgetaucht. Sechs Wochen lang war ich alleine in diesem Krankenhaus, bevor ich dann zu meinen Adoptiveltern kam.
Das muss wirklich ein ganz schönes Trauma gewesen sein, wenn man betrachtet, was man heute über frühkindliche Bindung weiß…
Kein vertrauter Geruch. Keine Stimme, die ich kannte. Kein Körper, an den ich mich kuscheln konnte. Nur weiße Wände, grelles Licht und ich.
Ich bin sicher, ich habe oft geweint. Und wahrscheinlich konnten die Krankenschwestern dort, egal wie lieb und bemüht sie gewesen sein mögen, lange nicht immer bei mir sein. Ich werde oft alleine geweint haben.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich bis heute kaum weine. Mein Körper hat gelernt: Weinen bringt nichts. Fühlen bringt nichts. Lieber frühzeitig abschalten. Funktionieren. Still sein. Brav sein. Dankbar sein, WENN jemand sich kümmerte.
Das war mein Anfang. Und viele Jahre lang habe ich gedacht, das sei normal.
Adoption = Schöne Story mit Happy End?
Adoption wird in unserer Gesellschaft fast nur als Story mit Happy End erzählt. Die Adoptiveltern nehmen ein Kind auf, das die leibliche Mutter nicht wollte, aus welchem Grund auch immer. Das ist in der Erzählung auch nicht so wichtig, Hauptsache die neue Familie ist glücklich.
Aber für das Kind beginnt diese Story mit einem Verlust. Mit einer Trennung. Mit einer existenziellen Erfahrung von Verlassenwerden.
Auch, wenn später alles „gut“ ist – auch, wenn man liebevolle Eltern bekommt – bleibt die Wunde. Tief vergraben. Ungesehen. Und oft unaussprechbar.
Denn wie soll man sagen, dass man leidet, wenn doch alle Welt sagt, man soll glücklich und dankbar sein?
Warum soll ich dankbar sein?
Weil ich adoptiert wurde? Weil ich am Leben bin? Müssen leiblich geborene Kinder etwa auch „dankbar“ sein, dass sie geboren wurden? Natürlich nicht. Es wäre grausam, von einem Kind Dankbarkeit dafür zu verlangen, dass es existiert.
Warum also von einem Adoptivkind?
Kein Kind schuldet irgendwem Dankbarkeit – schon gar nicht für seine bloße Anwesenheit.
Adoptiveltern entscheiden sich dafür, ein Kind aufzunehmen. Es genau so wie ihr leibliches Kind anzunehmen. Sie tun das im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte.
Adoptiveltern sind oft nicht gut informiert
Ich will ganz ehrlich sein.Ich liebe meine Eltern. Wirklich. Aber gleichzeitig gibt es da diese stillen Fragen, die ich mir bis heute manchmal stelle:
- Warum haben sie sich nie mit den Folgen, die eine Adoption für ein Kind haben kann, beschäftigt?
- Warum haben sie mir nicht ganz vehement klar gemacht, dass ich nicht dankbar sein muss, für rein gar nichts?
- Warum hat niemand gemerkt, wie weh es tut, in solchen Gefühlen aufzuwachsen?
Diese Fragen sind kein Angriff. Sie sind Teil meiner Geschichte. Und ich erzähle sie nicht, um jemanden schlecht zu machen, sondern weil sie wahr ist. Und ich bin ganz sicher, dass sehr viele Adoptivkinder das sehr gut nachvollziehen können.
Ich habe lange geglaubt, ich muss jemand anderes sein, um geliebt zu werden.In meiner Kindheit wussten alle, dass ich adoptiert bin. Der Bekanntenkreis meiner Eltern war riesig. Und ich erinnere mich an viele Bemerkungen, die mich tief getroffen haben:
- „Das sind ja nicht mal deine richtigen Eltern.“
- “ In Wirklichkeit ist das gar nicht dein echter Name“
- (Bei Ärzten oft:) „Gibt es da in Ihrer Familie irgendwelche Vorerkrankungen?“
- Du hast ja gar nichts mit deiner Mutter gemeinsam“
Erwartungen und Realität
Auch wenn meine Eltern sich wirklich Mühe gegeben haben, offen mit mir über meine Herkunft zu sprechen – es blieb immer dieses Gefühl: Ich werde nicht um meiner selbst willen geliebt. Ich sollte das Kind sein, das sie sich erträumt hatten: Gut in der Schule, sportlich, extrovertiert (zumindest genug, um mit ihren ganzen Bekannten zu plaudern…), ein Kind mit einem besonderen Talent, womit sie angeben können.
Aber ich war eben anders. Eher still. Mochte nicht gerne viele Menschen auf einem Haufen und war gerne mit mir alleine. Ich war nicht unbedingt sportlich, sondern eher künstlerisch begabt. Las gerne, mochte keinen Smalltalk. Schon gar nicht den mit ihren ganzen Bekannten.
Aber ich habe mit allen Mitteln versucht, das Kind zu sein, was sie sich erträumten. Brav. Angepasst. Sportlich talentiert. Gut in der Schule. Immer unterwegs mit den Kindern von ihren Bekannten.
Aber der Preis war hoch: Ich habe mich selbst verloren.Es war nämlich genau so lange „gut“ mit meinen Eltern, wie ich diese Rolle erfüllt habe. Als ich mit 13 oder 14 angefangen habe, nach meiner leiblichen Mutter zu suchen – und parallel angefangen habe, zu rebellieren, nicht mehr nur still und brav zu sein – da war es vorbei mit der guten Beziehung.
Naja, wenn ich ehrlich bin: Sie war vorher schon am Bröckeln. Die Liebe meines Vaters zum Beispiel war an Bedingungen geknüpft. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mich je in den Arm genommen und gesagt hat: „Ich bin stolz auf dich.“ Oder: „Ich hab dich lieb.“
Und das genau waren die Sätze, für die ich alles getan hätte.
Ich wollte einfach nur geliebt werden. So wie ich bin. Ohne Rolle. Ohne Erwartungen. Ohne Maske.
Die Suche nach dem ICH
Aber das Problem war: Ohne meine leibliche Familie, ohne Herkunft, ohne Geschichte – wusste ich oft gar nicht, wer ich überhaupt bin. Jedes Kind muss ja erst einmal herausfinden, wer er/sie ist. Und dabei identifiziert man sich. Ich sehe das jetzt an meiner eigenen Tochter.
- Das Musik Talent hab ich von Mama
- Ich werde genauso groß wie Papa
- Die freche Art… Ganz die Mama in dem Alter
So etwas geht bei Adoptivkindern eben nicht. Und ich merke vieles erst jetzt an meiner eigenen Tochter. Wie wichtig Identifikation ist und wie sehr sie als Baby auf mich angewiesen war. Wenn ich mir da vorstelle, dass ich das 6 Monate lang nicht (oder nur sehr unzuverlässig) hatte…schon krass.
Ich habe mir damals alles Mögliche ausgemalt, wie meine leiblichen Eltern sein könnten. Und meine Erwartungen, als ich sie dann (meine leibliche Mutter mit 14, meinen leiblichen Vater mit 18) kennen gelernt habe, wurden sehr bitter enttäuscht.
Highlight Satz meiner leblichen Mutter: „Wenn ich die Zeit zurück drehen könnte, gäbe es dich heute nicht.“
Heute habe ich keinen Kontakt mehr. Mein leiblicher Vater lebt leider nicht mehr, ich habe ihn leider nur sehr kurz kennen lernen können. Er war Italiener. Das ist auch was, wenn man mit 18 erfährt, das man zur Hälfte einer anderen Nationalität angehört.
Anders über Adoption sprechen
Ich schreibe diesen Text, weil ich glaube, dass wir über Adoption anders sprechen müssen. Weniger romantisch. Weniger idealisiert. Dafür ehrlicher. Und mit mehr Raum für die Perspektive derer, die am wenigsten gefragt werden: die betroffenen Kinder.
Ich möchte, dass auch diese Geschichten erzählt werden dürfen. Die Geschichten von Dankbarkeitsdruck, Bindungstrauma, von Fragen ohne Antworten. Denn Adoption ist nicht nur Rettung. Sie ist auch ein Bruch. Und oft dauert es ein halbes Leben, bis man den Mut findet, das auszusprechen.
Weiterführende Infos
BPAR.org – Riesen Sammlung von hilfreichem Material + Blog zum Thema Adoption
Buch: The Primal Wound von Nancy Verrier – Ein Buch (auf Englisch) über die lebenslange Prägung, die eine Adoption mit sich bringt. Fand ich sehr gut und hilfreich, mich selbst zu verstehen.
Voices Unheard: A Reflective Journal for Adult Adoptees – Tagebuch zum Selbst Ausfüllen mit sehr vielen hilfreichen, reflektierenden Fragen für erwachsene Adoptierte – hat mir extrem geholfen! (Leider nur auf Englisch, soweit ich weiß)
Adoptivaktiv.de – Beratung für Adoptierte – eine der wenigen deutschen Seiten mit Fokus auf die Adoptivkinder. Hier ist auch eine Gesprächstherapie möglich.